Friday, November 27, 2009

Die steinigen Wege der Forschung und der Tag der Danksagungen

Was ein Forscher nicht alles bei der Datenerhebung erleben kann. Einzigartige Menschen: Von einer esoterischen extrem freundlichen Lesbe über versnobte verwöhnte Südkalifornier bis hin zu Oststaaten-Amerikanern, die mich einfach zu ihrem Thanksgiving einladen.

Eine Woche, sieben Tage, viereinhalb Stunden jeden Tag lang habe ich Kunden eines gesundheitsorientierten Lebensmittelgeschäftes befragt woher sie kommen und warum sie ausgerechnet in diesem Laden ihre Lebensmittel einkaufen.


Der allererste Testlauf lief nicht ganz so gut: Von fünf Leuten wollte gerade einmal eine ältere Dame meine Fragen beantworten. Nach circa zwei, drei Minuten war auch schon alles vorbei. Und ich war so tierisch aufgeregt. Auch war die Testbefragung nicht genehmigt.

Allein die Erlaubnis eine Umfrage durchführen zu dürfen zu bekommen, und zwar von einem Multimillionen-Dollar Immobilienunternehmen hat mich eine Menge Nerven gekostet: Auf E-Mails hat schon mal gar keiner reagiert und bei meinem ersten Anruf wurde mir mitgeteilt, die Angerufenen seien nicht die Eigentümer und ich solle diesen anrufen. Die Dame in der Zentralvermittlung des Immobilienunternehmens teilte mir die gleiche Nummer, die ich kurz vorher schon angerufen hatte und von der ich zu der Vermittlung verwiesen wurde, wieder mit. Bei dem nächsten Anruf dort habe ich mich nicht mehr so leicht abspeisen lassen. Die Dame erzählte mir sie seien die Eigentümer des Parkplatzes und würden mir nicht erlauben dort Fotos aufzunehmen oder Befragungen durchzuführen und genauso wenig könne sie sich vorstellen, dass das Immobilienunternehmen (welches das Shopping Center besitzt) dies erlauben würde. Dennoch war sie so freundlich mir eine Telefonnummer zu geben. Zum Glück habe ich auch nach der E-Mail-Adresse gefragt, die Telefonummer war nämlich nicht die richtige wie ich später herausfand. Ich schrieb also - ziemlich hoffnungslos - eine E-Mail an die nächste Dame. Kaum zu glauben, aber sie antwortete bereits nach 40 Minuten - und das wo ich vorher mehr als eine Woche auf eine Antwort gewartet hatte! Lag wohl daran, dass sie UCI Allumni ist. Natürlich war sie nicht verantwortlich sondern das Risikomanagement der Unternehmenszentrale - natürlich! Ziemlich verzweifelt habe ich auch an den Laden selbst eine Nachricht über das Formular auf ihrer Seite geschrieben. Niemand antwortete. In einem Anruf direkt in diesem Laden bekam ich eine Absage. Auch das Management des "Gated" (mit Toren versehenen) Wohnhochhauses hat mich abgewiesen. Nach einer Woche bangen Wartens und totaler Nervosität - denn meine ganze Arbeit hing von dieser Fallstudie ab, bekam ich unverhofft eine E-Mail von der Unternehmenszentrale des Ladens. Sie würden sich gerne mit mir treffen und mein Projekt besprechen. Einen Tag später bekam ich auch die Zusage von dem Immobilienunternehmen.

Ich begann sofort am nächsten Tag mit den Befragungen und hatte auch ein erfolgreiches Gespräch mit der Kundenservice-Chefin des Ladens. Diese gab mir nicht nur die Erlaubnis, sondern versprach mir auch Coupuns als Anreiz für die Kunden. Bis dahin hatte ich Cookies (Plätzchen/Kekse) verwendet. Das fanden die Leute natürlich sehr niedlich. Auch hatte ich mein Outfit angepasst und zog statt einem Hemd ein Sweatshirt mit dem Schriftzug der Universität an. Und ich hatte mein Clipboard verbannt und gegen ein A5 Notizbuch ausgetauscht. Nach zwei Stunden hatte ich bereits zehn Befragungen durchgeführt.

Die erste wirklich interessante Person traf ich am nächsten Interview-Tag. Eine junge Frau mit Hut und einer Brille bestehend aus Reihen von Glassteinen - also ohne jegliche Funktion. Sie trug ausserdem eine weiße Hose mit roten Aufschriften. Als ich sie ansprach sagte sie, dass sie zwar anerkennt, was ich tue, dass sie sich aber einfach nur gerne hinsetzen und ihr Essen genießen würde - denn sie hatte ihren freien Tag. Nach einer erfolglosen halben Stunde dachte ich mir, ich sollte sie vielleicht doch mal ansprechen, habe ja nichts zu verlieren. Sie reagierte überraschend freundlich und meinte, wenn ich sie essen lassen würde, könnten wir einfach ein wenig plaudern, das wäre perfekt. Diese Frau, nennen wir sie Kathryn, kommt zu dem Markt mehrmals täglich und ißt dort Frühstück und Abendbrot. Sie erzählte mir, dass sie gerade ihre Ernährung umgestellt hätte - und nicht nur das, sondern ihr ganzes Leben. Wenn sie traurig ist, ist sie eben traurig, das ist in Ordnung. Kathryn kann einfach nur da sitzen und ihr Essen genießen - und ich meine GENIESSEN: sie könnte minutenlang über den Geschmack einer Avocado sprechen. Auch kennt sie Menschen die "mit Energie arbeiten" und ... sie ist lesbisch. Die Brille trägt sie übrigens damit sie die Leute in Ruhe lassen, da sie als Managerin eines Restaurants sehr viel zu tun hat und ständig irgend jemand etwas von ihr will.

Zwei Personen kehrten einfach die Befragung um und interviewten mich. Eine Dame empfohl mir ein Bildungsprogramm und gab mir ihre Telefonnummer. Ein Mann, Angestellter bei Costco - auch ein Lebensmittelgeschäft - meinte zu mir er hätte eine interessante Frage, die er jedem stellen würde: Was passiert wenn du stirbst? Ich schaute ihn entsetzt an, und er begann mir über Religion erzählen würde und dass Jesus an unserer Stelle die Strafe für die Sünden ertragen würde. Es war unglaublich ... leider musste ich meinen Bus bekommen und konnte mich nicht länger unterhalten.

Ein Chemiestudent, Doktorand in Luftverschmutzung, unterhielt sich lange mit mir. Seine Frau ist Deutsch, sie haben eine Fernbeziehung zwischen dem Mittleren Westen und Kalifornien. Er ist umweltfreundlich orientiert und beide sind Vegetarier. Ich solle mal bei seinem Büro in der Universität vorbeischauen.

Die letzte interessante Begegnung am vorletzten Tag meiner Untersuchung, war die folgenreichste für mich. Eine grauhaarige Dame war gerade dabei einen Einkaufswagen zu holen. Ich sprach sie an (es hat sich als erfolgsbringend erwiesen Leute bevor sie in den Laden gingen auf den Gutschein hinzuweisen, den sie ja dann gleich verwenden könnten). Als sie hörte, dass ich deutsch bin, sagte sie: "Ich hole meinen Mann aus dem Markt und wir beantworten dir gerne deine Fragen" (auf Englisch natürlich). Sie erzählte mir, dass ihr verstorbener Ehemann Deutscher war, und dass sie Deutschland liebt. Nach dem Kurzinterview fragt sie mich die üblichen Fragen: Wie lange bist du schon hier? Wie lange wirst du noch bleiben? Gefällt es dir hier? Nachdem ich ihr erzählte, dass ich noch drei Wochen hier sein werde, fragte sie mich was ich zu den Feiertagen mache. Und ich sagte - nicht ganz wahr - ich weiß es nicht. (Tatsächlich hatte ich geplant mein eigenes Thanksgiving unter Freunden zu organisieren.) Daraufhin lädt sie mich ein und verspricht mir, dass sie mir alles über das Fest erzählen würde. Er erwähnt, dass sie gerne kocht. Sie geben mir ihre Telefonnummer und sagen ich solle sie einen Tag vor Thanksgiving anrufen. Wirklich! Sie würden sich freuen!

Für mich ging damit ein Wunsch in Erfüllung - ein traditionelles Thanksgiving.

Allerdings hatte ich keine Ahnung was mich erwarten würde: ein Paar, dass sonstwas mit mir vorhat, mich entführen will? Eine liebenswerte Familie? Wie auch immer: no risk - no fun oder: Wer nichts riskiert, der nichts gewinnt.

Also rief ich an, und der Mann hob auch tatsächlich ab. Ich sagte ihm meine Adresse und an Thanksgiving um zwei holte er mich ab. Nicht in einem großen, neuen Auto - wie ich dachte wegen der hohen Ausgaben für Lebensmittel - nein, in einem alten weißen Mercedes. Nach ein paar Minuten sind wir da. Ich trete ein ... und bin überwältigt! Eine unglaubliche Dekoration - alles in Orange und voller künstlichem Laub. Als wenn ein Herbstwald all seine Blätter direkt in ihrer Wohnung abgeworfen hätte. Auch Engel und andere Keramikfiguren sind anwesend. Ich werde superfreundlich begrüßt und bedeutet mich hinzusetzen. Sie bieten mir Macadamianüsse und Champagner und Rocher an, die Couch ist wirklich gemütlich. Und sie reden die ganze Zeit, fragen mich aus von beiden Seiten und ich tu mein bestes zurückzufragen: Flugbegleiterin und Investmentbanker, seit 25 Jahren zusammen, keine Kinder. Sie erzählen über Thanksgiving .

Es ist der Tag an dem gedankt wird. 1621 erreichten die Pilger auf der Mayflower die Küste Amerikas. Sie hatten kaum etwas bei sich und die einzigen Menschen in Amerika, die Indianrer halfen ihnen und gaben ihnen Lebensmittel. Das ermöglichte den ersten Vorfahren der späteren US-Amerikaner (damals Neu-England) zu überleben. Dies wird heute gefeiert - ein Feiertag, den es nur in den USA gibt. Sie danken aber nicht den Indianern, sondern Gott. Die Tradition in dieser Familie ist, den Spruch auf seinem eigenen Kürbis vorzulesen und zu sagen wofür man in diesem Jahr dankbar ist.



Sie zeigen mir ihren Truthahn ("Turkey"), und wenig später wird er aus dem Garbeutel genommen und ohne zurück in den Ofen zum Bräunen gesteckt. Zwei weitere Gäste kommen an. Das Paar lädt jedes Jahr Gäste ein, die niemanden haben zu dem sie an Thanksgiving gehen können. Debbie ist eine Sängerin, Dazzy ist gerade dabei ihr eigenes Unternehmen aufzubauen. Dann endlich ist der Turkey fertig. Ich darf auch mal mit dem elektrischen Messer ein paar Scheiben abschneiden - der amerikanische Höhepunkt meines Aufenthaltes hier. Dann das großartige Abendessen, zu entnehmen von einem liebevoll mit Kerzen beleuchteten Buffet-Tisch. Da waren Süßkartoffeln, Erbsen, Blumenkohl, Rosenkohl ("Brussel Sprouts"), Stuffing (Brot, Pilze und Kräuter), Knoblauchkartoffelbrei, und natürlich Cranberries und der Turkey, und nicht zu vergessen: Gravy - die Soße. Nach dem phänomenalen Essen gehen wir kurz spazieren. ich unterhalte mich mit Dazzie - sie ist ebenfalls (natürlich!) esoterisch angehaucht und erzählte mir, dass man, wenn man nur dran glaubt, durch alles hindurch greifen kann. Auch durch die Couch (auch wenn diese, als ich sie fragte, für sie wie eine normale Couch aussah) - denn alles besteht aus Energie. Tatsächlich hat anscheinend schon mal jemand durch sie selbst hindruchgegriffen (sagt sie) ... Ich fragte sie, ob sie mir mit einem gesundheitlichen Problem helfen könnte, und sie fühlte meinen Puls und erzählte mir, was ich tun könnte. Mal schauen, obs was bringt. Ich werds ausprobieren, auch wenn ich nicht dran glaube. Aber ihre Tipps klingen vernünftig.





Zurück im Haus gibt es Dessert: drei verschiedene Sorten Cookies, Kuchen mit Vodka, Kürbisflan und Schokolade. Wir danken (Debbie singt, nachdem ich sie gefragt habe, ihren Kürbisspruch). Wir plaudern ein wenig. Sie erzählen über ihre Probleme und dass sie die Menschen in Orange County nicht leiden können, weil sie verwöhnt und unecht und oberflächlich sind. Kann ich total nachvollziehen. Allerdings haben auch sie sich ständig selbst gelobt und wenn Stories erzählt wurden übertrieben reagiert ("Neiiinnnnn!!! Wiiiirklich??? Das hat er getan?). Für mich ist dieses Verhalten einfach amerikanisch und ungewohnt. Und hier, in dieser Region mag es noch ein wenig ausgeprägter sein, als woanders in Amerika.

Sie haben mich aber sehr glücklich an diesem Tag gemacht und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Ich denke, wir bleiben in Kontakt ... und ich hatte auch heute, einen Tag später, nochmal ein wunderbares Abendessen. Wenn es auch ohne die Dekoration und Atmosphäre lange nicht so toll war!