Friday, December 4, 2009

"Städte"und Städte

Wenn ich versuche zu beschreiben, wo ich in den USA lebe, dann fällt es mir schwer den Begriff Stadt zu verwenden. Tatsächlich ist es mehr ein Häusermeer mit endlosen Straßenabschnitten ohne eine Querstraße, weil es zu den gut abgeriegelten Wohngebieten so gut wie keine Zufahrtsstraßen gibt. Wenn ich irgendwo ausgesetzt werden würde, würde es mir schwer fallen wieder zurück zu finden, denn alles sieht irgendwie gleich aus in Irvine. Deswegen ist laufen auch wirklich nicht zu empfehlen. Dennoch bin schon mehrere Meilen durch Irvine gelaufen. Hat man erstmal einen Blick auf eine Karte geworfen, ist es leicht die Hauptstraßen nachzuverfolgen, da es eben nicht viele gibt. Nur, da alle Funktionen voneinander getrennt sind, also jeder "Block" eine andere Nutzung hat, sind die Distanzen riesig, zumindest zu Fuß. Und ein Bus kommt nur alle 60 Minuten. Im Auto sind die Distanzen dagegen kein Problem. Angesichts dieser Distanzen macht die Maßeinheit "Meilen" plötzlich Sinn. Denn US-Amerikaner nehmen Distanzen anders wahr als Europäer. Eine Fünf-Stunden-Fahrt erscheint völlig normal und selbstverständlich. Wie auch immer, ich bin kein Autofahrer, und ich könnte mich jedes Mal kräftig in den Hintern beißen, wenn ich die Buszeiten falsch in Erinnerung oder falsch nachgeschaut hatte, und der Bus gerade an mir vorbei fuhr, nur ein paar Meter entfernt - und ich daraufhin um mich nicht im Dunkeln zu langweilen und zu frieren meilenweit gelaufen bin.



Doch VORstädte haben auch VORteile ... zum Beispiel, dass sie wunderbar grün sind und toll gestaltet und es sehr ruhig und sicher ist - zumindest hier in Irvine. Das kann aber in der Nacht auch beängstigend sein, wenn keine Menschenseele auf der Straße ist. Wobei es hier, in der Nähe der Universität noch sehr angenehm ist, da doch viele Studenten laufen. So waren zum Beispiel zu Halloween die Straßen gut belebt ... zumindest bis um punkt 12 Uhr die Polizei alles dicht machte. Da kann die schönste Party schnell zu Ende sein.

Irvine ist schon wesentlich zukunftsorientierter gestaltet als viele andere Vorstädte. Die Wege und Straßen sind nicht überwiegend rechtwinkling angeordnet, sondern kurvig. Das soll ein wenig Spannung und Abwechslung in die Einöde bringen. Leider ist das für Fußgänger nur noch mehr von Nachteil, da die Wege nicht sehr fußgängerlogisch sind. Zu meinem Supermarkt hier muss ich eine Meile laufen, da es keine Abkürzung gibt. Und wenn man auf dem Campus abkürzen will, dann muss man über weite Rasenflächen laufen und die Wege weit links liegen lassen - Für mich fühlt sich das an, als ob die Stadtplaner einen Stift genommen und lustig ein paar Kurven auf ein Blatt gezeichnet hätten, völlig zufällig und nach Belieben... Ist ja auch egal - die Menschen sind sowieso motorisiert.

Dennoch: unglaublich, aber wahr, es gibt einen Bordstein und es gibt Ampeln, die es mir ermöglichten als Fußgänger über den Freeway (die amerikanische Autobahn) zu laufen. Das hat sich vielleicht verrückt angefühlt: einen Meter links von mir Autos, rechts von mir Autos, unter mir Autos, vor mir, hinter mir ... Autos, Autos, Autos - hey, das ist Kalifornien!



Da Irvine sehr sicher ist und auch bleiben soll, gibt es natürlich keine Clubs, in denen man tanzen kann und nur wenige Bars. "Nun", würde eine bestimmte Person jetzt sicher sagen, "warum gehst du nicht nach Los Angeles - das ist doch eine richtige Stadt, in der man ne Menge unternehmen kann." Tatsächlich ist Los Angeles aber nicht großartig anders: Häusermeere mit zufällig verstreuten Kultureinrichtungen, Shopping Centern und dem Finanzzentrum in Downtown.
Dazwischen Highways.





Mein erstes Erlebnis, mein erster Eindruck in den USA war der Flughafen von Los Angeles, errichtet um ein riesiges Parkhaus. Und kein öffentlicher Nahverkehr weit und breit. Des nachts, wenn am Wochenende alle Clubs gleichzeitig um 2 Uhr schließen, formiert sich ein Phänomen, dass sich Großstadt-Deutsche wahrscheinlich kaum vorstellen können - Stau im Parkhaus, Stau auf den Straßen, Stau überall! Um 2 Uhr! In der Nacht! Gut ist übertrieben, aber es ist wirklich unsinnig, dass pünktlich um 1.50 Uhr die Musik aus und das Licht angeht, und alle Menschen zu ihren Wagen hetzen, um ja nicht in den besagten (kurzzeitigen) Stau zu kommen.

Meine Thanksgiving Gastgeber haben Orange County treffend genau so bezeichnet, wie Michael Dean schon vor mehreren Jahren die amerikanische Vorstadtlandschaft beschrieben hat - und die leibhaftige namensgebende Version dessen, befindet sich nur einen Autokatzensprung von hier entfernt in Anaheim - Michael Dean beschrieb sie als Disneyland. Orange County ist ein einziges Disneyland. Nichts ist echt. Und die Standorte, an denen sich Dinge befinden sind egal, denn es gibt ja Highways und das Internet.

Und doch ... es gibt sie, die echten amerikanischen Städte, voller Charme, und strotzend vor dem, was besagten Häusermeeren fehlt: Seele. Ihre Namen? Chicago, Seattle, New York, San Francisco (auch wenn ich in letzteren beiden nicht war, bin ich dennoch überzeugt, dass diese beiden auch zu den wahren Städten gehören, und vielleicht noch ein paar andere, ist ja schließlich ein großes Land). Ein Blick auf die Fotos sagt schon alles: statt breiten Straßen und Highways gibt es in ihren Innenstädten schmale Straßen, die eingezwängt zwischen Hochhäusern und Wolkenkratzern, auch tagsüber von Fußgängern bevölkert sind. Sie verfügen über öffentlichen Nahverkehr, der mehr als einmal die Stunde bedient wird und strahlen einen unverwechselbaren individuellen Charme aus. Während hier in Orange County alles gleich aussieht und somit austauschbar ist, ist es gleich bei der Ankunft am Hauptbahnhof Chicagos ein ganz anderes Gefühl: Menschenmassen wälzen sich jeden Morgen an dir vorbei, von den riesigen monströsen Metrolinkzügen (Foto) zu dem Finanz- und Dienstleistungszentrum der Stadt, dem Loop. Menschen auf den Straßen, Kaffee balancierend, bei Starbucks anstehend oder einfach nur vorübereilend zum nächsten wichtigen Termin.







Und das alles unter der Wachsamkeit der Hochhäuser, die von einer längst vergangen Zeit erzählen ... den 50er Jahren. Neben dieser beeindruckenden allgegenwärtigen Architektur gibt es auch viele Kulturstätten, geprägt von einzigartiger Kunst wie dem Millennium-Park (Foto). Der Chicago Blues trägt dazu bei, dass Fragmente dieser Zeit weiterleben. Nicht nur in den Blues Clubs der Stadt, sondern überall trägt diese, ste
ts mit der Geschichte Chicagos verwoben gewesene Musik zu einem besonderen Flair bei, der so in Los Angeles, oder gar Irvine nicht möglich ist. Denn Chicago ist viel viel älter und besitzt einfach eine Vergangenheit. Vielleicht fühlt es sich so in L.A. in 50 Jahren an... Mein besonderes Chicagoer Highlight wäre in L.A. aber so dennoch nicht vorstellbar: ein Geschäft mit liebevoll ausgesuchten vielen vielen Postern und typischen Andenken. Leider konnte ich keine CD finden. Zwei Stunden in diesem Laden haben sich angefühlt wie ein paar Minuten, obwohl ich absolut keine Shopping-Maus bin.

Und dennoch ... von ganz oben, 400 Meter über dem Meeresspiegel, kann man sie sehen, die Boten der Westküste, das vereinende Element aller amerikanischer Staaten: die Häusermeere der Chicagoer Vorstädte und die sie teilenden Highways, die einfach quer durch die Stadt gegraben wurden.



Eine andere Stadt, von der ich erzählen möchte, ist Seattle: Seattle durfte ich aus dem Blickwinkel lokaler Amerikaner kennenlernen. Ganz anders als Chicago, viel kleiner, und doch wunderschön. Seattle ist keine Großstadt im Sinne von vielen Einwohnern - es leben hier weniger Menschen als im Raum Köln. Dennoch könnte man dies vermuten, denn die Stadt verfügt über ein gut ausgebautes Nahverkehrssystem für das extra Tunnel unter Downtown gegraben wurden, in denen nur Busse und Lightrail (Straßenbahnen) fahren - So bin ich angekommen.



Aus dem Untergrund Stockwerk um Stockwerk nach oben gekämpft, war mein erster Eindruck der Stadt sehr verregnet. Doch das machte nichts. Ich wurde sehr lieb willkommen geheißen, durfte schnell meine Sachen abstellen, und wurde erstmal in ein Restaurant verschleppt (natürlich mit dem Auto, denn es regnete ja). Daraufhin ging es zu einem kleinen lokalen Theater zu "Sex in Seattle".



Am nächsten Tag fuhren wir mit Auto und ÖPNV zu Farmersmärkten und in die Innenstadt. Und wieder ist sie da, diese Individualität, und sogar noch viel stärker als in Chicago. Auf den Märkten bekommt man Dinge aus der Region, die man sonst nirgends bekommt ... und auch das Theater und die Bar, in der wir waren, waren individuell, einzigartig. Nicht zu vergessen das unglaublich tolle Lachs-Restaurant! Außerdem - wo sonst stehen nur mit Unterwäsche bekleidete Männer als Life-Advertising im Schaufenster eines Unterwäschegeschäftes? Vielleicht in San Francisco ...



Aber bestimmt nicht in Orange County ...

Seattle wurde im 19. Jahrhundert gegründet, benannt nach Häuptling Sealth, der den europäischen Siedlern Nahrung und Unterkunft gab - noch heute erinnern zahlreiche Materpfähle in Downtown Seattle an die Indianer-Völker der Duwamish und Suquamish. Chicago und Seattle haben erstaunliche Gemeinsamkeiten: Beide Städte wurden im 19. Jahrhundert aus Holz errichtet, und fielen noch im selben Jahrhundert großen Feuerkatastrophen zum Opfer. Beide Städte wurde später wieder aufgebaut, diesmal aus Stahl und, damit sich die Investition in die hohen Bodenpreise auch lohnt, in luftige Höhen hinaus. Beide haben ihre Musik, die von der Stadt untrennbar ist - Chicago den Blues, Seattle den Grunge (Nirvana etc.) Und zu guter letzt: beide Städte gewannen Bedeutung als Weltstädte durch die Weltausstellungen in den 60er Jahren.





Nur das
Wetter, in Chicago zwischen feuchter Hitze im Sommer und Schneestürmen im Winter schwankend, und in Seattle mild und verregnet, ist unterschiedlich. In einem Detail unterscheidet sich Seattle vermutlich von vielen anderen amerikanischen Orten: den Menschen. In Seattle sind sie wahnsinnig gebildet - sie sind weniger oberflächlich und es ist einfach ein ganz anderes Gefühl mit ihnen zu reden. Als ich über den Campus gelaufen bin, habe ich dort so viele Studenten gesehen wie noch nie auf einem Campus: sie warfen sich gegenseitig Frisbees zu.



Und die Gespräche mit meinen Freunden in Seattle waren so ehrlich, und wenig gekünstelt, und vor allem intelligent und tiefgründig. Alles hat so harmonisch gewirkt ... irgendwie anders als hier.

Und doch ... natürlich, auch Seattle hat sie, die amerikanischen Highways und Vorortsiedlungen.

Und was beide Städte natürlich nicht haben, obwohl sie am Wasser liegen, ist einen Traumstrand und immerwährenden Sonnenschein - Das kann Südkalifornien niemand nehmen und das ist auch der größte Vorteil und Grund warum hier so viele Menschen - vor allem auch erstaunlich viele Deutsche - leben.





Höchstwahrscheinlich ist es einfach meine europäische Herkunft, und der Fakt, dass ich in einer Großstadt aufgewachsen bin, was mir zu sehr in den Knochen steckt und mich Seattle und Chicago sympathischer finden lässt. Wenn ich mir vorstellen könnte irgendwo in den USA zu leben, dann dort - oder vielleicht New York oder San Francisco...

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